»In der Vergangenheit suchen wir die Zukunft«
Interview mit Michaela Melián

Michaela Melián, Foto: Jörg Koopmann
Michaela Melián verbindet Kunst, Musik und Erinnerungskultur zu einem vielschichtigen Werk. In ihren Installationen, Zeichnungen und Klangarbeiten setzt sie sich mit historischen Ereignissen, politischen Strukturen und gesellschaftlichen Fragen auseinander. Seit über 40 Jahren ist sie zudem Teil der Band F.S.K. und veröffentlicht auch Solo-Musik.
Annette und Rainer Stadler begegneten Michaela Meliáns Kunst 2014 in der Ausstellung Playtime im Lenbachhaus München. Die Gruppenausstellung widmete sich dem Thema Arbeit und zeigte künstlerische Positionen, die sich mit den Mechanismen von Kapitalismus und sozialer Ungleichheit auseinandersetzten. Meliáns Zeichnungen faszinierte die beiden Sammler besonders. Ihre Begeisterung führte sie in den Austausch mit der Galeristin Barbara Gross, die schließlich den Kontakt zur Künstlerin herstellte und Ankäufe für ihre Sammlung ermöglichte.
Im Interview spricht Michaela Melián über den Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn, die Rolle von Geschichte in ihrer Arbeit und die Bedeutung von Musik für ihr Schaffen.
Gibt es einen Moment in deinem Leben, den du als Anfang deiner künstlerischen Karriere beschreiben würdest?
Der Begriff Karriere impliziert ja eine Form von überregionaler öffentlicher Wahrnehmung, deshalb würde ich hier meine erste Einzelausstellung Tomboy, 1995, in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden nennen, zu der auch ein Katalog mit dem gleichen Titel erschienen ist. Die dort gezeigten Arbeiten sind noch heute für mich relevant. Zwar hatte ich seit dem Ende des Studiums bis dahin schon viel ausgestellt, aber hier in Baden-Baden, wo sich die Ausstellung über mehrere Räume erstreckte, konnte ich zum ersten Mal allein richtig große Räume bespielen.
In dem großen Hauptraum im ersten Stock der Kunsthalle hatte ich acht große, rosa Farbfelder direkt auf die Wand gemalt. Auf jede dieser monochromen Wandflächen war jeweils mit roter Farbe eine andere Tomboy-Phantombildzeichnung von Hand dreizehnmal aufgedruckt worden. Bei diesen Phantombildern handelt es sich um Porträts von acht Frauen: Tamara Bunke, Emma Goldman, Renate Knaup-Krötenschwanz, Erika Mann, Patsy Montana, Charlotte Moorman, Annemarie Schwarzenbach und Sir Galahad, die alle nach meiner Beschreibung am Fahndungscomputer des Landeskriminalamts (LKA) in München hergestellt worden waren.
Da in diesem frühen digitalen Zeichenprogramm nur männliche Gesichtsteile, generiert aus früheren, handgezeichneten Fahndungsbildern, hinterlegt waren, waren diese (weiblichen) Porträts aus dem vorhandenen (männlichen) Gesichtsmaterial zusammengesetzt. Für diese Arbeit haben mich folgende Fragen beschäftigt: Wie wird Sprache zum Bild? Welche vorprogrammierten Stereotypen sind sowohl in unserer Sprache als auch in dem Computerprogramm bereits inhärent? Die Auswahl der jeweiligen Personen für die Beschreibung ergab sich aus meiner Suche nach weiblichen Role Models.
Als Sitzgelegenheit lag im Raum die 6,5 m lange Skulptur Mossberg Model Bullpup aus rosa Frottee, hergestellt in zehnfacher Vergrößerung nach den originalen Maßen des gleichnamigen Schnellfeuergewehrs.
In dem dahinterliegenden Saal waren 45 Tomboy-Zeichnungen zu sehen. In der Werkreihe Tomboy (engl. für Mädchen, die sich nicht rollenkonform verhalten) steht für mich die Auseinandersetzung mit Zuschreibungen von Weiblichkeit und Geschlechterrollen im Mittelpunkt. Die Zeichnungen zeigen Frisuren, Kleidungsstücke und Accessoires, die im Allgemeinen weiblich konnotiert sind.
Installationsansichten "Tomboy" Kunsthalle Baden Baden, 1995. Fotos: Heiner Blum
In vielen deiner Arbeiten spielen historische Ereignisse eine zentrale Rolle. Woher stammt dein Interesse an Geschichte, insbesondere an der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts?
Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen und vor allem durch die deutsche Sprache, Kultur, Geschichte, Politik, Medien und Landschaft – und natürlich auch durch (west-)deutsche Institutionen wie Schule und Universität – geprägt worden. Egal, welches Thema ich im Kopf habe, kommt doch immer sofort die deutsche Geschichte in all ihrer vielschichtigen Komplexität um die Ecke. Und diese Geschichte(n) sind relevant für das Jetzt und unsere Gegenwart, so wie es Walter Benjamin mit seinem geschichtsphilosophischen Konzept des dialektischen Bildes beschreibt, wenn Vergangenes und Gegenwärtiges so in eine Konstellation treten, dass ihr Verhältnis blitzhaft erhellt wird.
Wie wählst du die Themen und Ereignisse aus, die du in deinen Werken aufgreifst? Was ist dir dabei besonders wichtig?
Immer schon hat mich besonders interessiert, wie zum Beispiel in Historiengemälden Alltag und Politik dargestellt werden. Wer beschreibt hier aus welcher Perspektive für welches Publikum eine bestimmte Welt? Wer kommt in diesen Bildern in welcher Form vor und wer wird nicht in die Erzählung einbezogen? So ergeben sich natürlich aus einer dekonstruktiven feministischen Perspektive heraus ständig neue thematische Komplexe für das Heute und Morgen. In der Regel suche ich die Themen nicht gezielt, sie finden mich bzw. entwickeln sich weiter. Oft ergeben sie sich auch aus den geplanten Ausstellungsorten.
Du hast für viele Erinnerungsorte multimediale Installationen geschaffen, wie die "Memory Loops" in München oder deine aktuelle Arbeit "Ulrichschuppen" in Bremen. Kannst du uns mehr über diese Projekte und deine Herangehensweise erzählen?
Die erste Arbeit in dieser Art war mein Projekt Föhrenwald und kann exemplarisch für spätere Arbeiten stehen. Für dieses Projekt gab es keine beauftragende Institution, weshalb es nur durch die Zusammenarbeit mit dem Kunstraum München und dem Bayerischen Rundfunk sowie durch die finanzielle Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes möglich war, im Jahr 2005 nach einer längeren Recherchephase eine temporäre Installation am Münchner Hofgarten einzurichten. Dort lief vier Wochen lang die 60-minütige Audio- und Dia-Installation Föhrenwald in einem extra dafür gebauten Gehäuse, frei zugänglich für alle. Gleichzeitig lief der Soundtrack der Arbeit als gleichnamiges Hörspiel im Bayerischen Rundfunk. Die Kuratorin Heike Ander und ich haben außerdem eine umfangreiche Publikation zur Recherche und zum Kunstprojekt erstellt und im Kunstraum München ein Symposium abgehalten.





Föhrenwald, 2005, Installationsansicht, Hofgarten/Galeriestraße München, Fotos: Christoph Seeberger
Unweit von meinem Wohnort bin ich auf die bis dahin nur Historiker*innen und Zeitzeugen bekannte Geschichte der Siedlung Föhrenwald gestoßen. Föhrenwald war ursprünglich als Mustersiedlung für die nationalsozialistische Wohnungspolitik im Isartal südlich von München gebaut worden. Im Jahr 1940 wurde sie in ein Lager für ausländische und deutsche Zwangsarbeiter*innen für nahe gelegene Munitionsfabriken umgewandelt. Nach der Befreiung des Lagers im Mai 1945 wurde die Wohnanlage von der amerikanischen Militärverwaltung zu einem exterritorialen Lager für jüdische Displaced Persons umfunktioniert: Mehr als zehn Jahre lang lebten hier bis zu 10.000 Überlebende der Vernichtungs- und Konzentrationslager, die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Das selbstverwaltete DP-Camp wurde schließlich aufgelöst, und ab 1956 zogen deutsche, kinderreiche Vertriebenenfamilien in die Häuser von Föhrenwald ein. Der Ort wurde daraufhin in Waldram umbenannt. In den ganzen Jahren hatte sich das äußere Erscheinungsbild der Siedlung nur wenig verändert.
Heute, Jahre nach meinem Projekt, gibt es dort nun einen Erinnerungsort, in dem man auch meine Arbeit Föhrenwald sehen und hören kann. Föhrenwald erzählt die Geschichte der Siedlung in Form einer multimedialen Installation: Zeichnungen der Häuser in weißen Linien auf schwarzem Grund blenden langsam ineinander und visualisieren einen imaginären Spaziergang durch die Siedlungsanlage. Mehrere Stimmen erzählen von den verschiedenen Phasen der Geschichte der Siedlung. Das Manuskript basiert auf Dokumenten aus der Planungszeit der Gebäude, den Erinnerungen von Zwangsarbeiter*innen und Interviews mit jüdischen Bewohner*innen sowie den nach 1956 zugezogenen deutschen Heimatvertriebenen, deren Familien zum Teil noch heute dort leben. Professionelle Schauspieler*innen sprechen die bearbeiteten Interviewtexte, während Kinder die historischen Dokumente lesen. Die vielstimmige Collage ist eingebettet in eine Musik, deren gleichmäßiger Fluss die verschiedenen Quellen miteinander verbindet. Für die Komposition habe ich Samples von Schallplatten verwendet, die zwischen 1931 und 1938 von den jüdischen Firmen Semer und Lukraphon in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Kulturbund in Deutschland herausgegeben wurden.
Föhrenwald, Dias, 2005
Um deine Themen zu bearbeiten, fertigst du häufig Nähmaschinenzeichnungen an, von denen sich einige auch in unserer Sammlung befinden. Dabei überträgst du Motive mit der Nähmaschine auf Papier. Wie bist du auf diesen Prozess gekommen und was möchtest du damit bewirken?
Die Nähmaschine verstehe ich als Zeichenmaschine, denn durch das Ziehen, Drehen und Wenden des Blattes unter dem Nähfuß übernimmt die Maschine die Führung beim Zeichnen. Die Linien gewinnen durch die Eigendynamik der Maschine etwas Selbstbestimmtes, Chaotisches, und entziehen sich geradezu meiner Autorschaft. Somit widersetzt sich die genähte Zeichnung einer als genial gelesenen Künstler*innen-Handschrift. Dieser Prozess entspricht für mich einer Art écriture automatique.
Dazu kommt, dass mit der Nähmaschine, anders als bei der Näharbeit mit der Hand, eine Linie mittels der Verschlingung zweier Fäden erzeugt wird, denn erst durch die Verknüpfung des Ober- und Unterfadens entsteht die Linie/Zeichnung. Wenn man dann am fertigen Blatt an einem Fadenende ziehen würde, würde sich die Linie auftrennen, und es bliebe nur zerlöchertes Papier zurück. Für mich ist diese Form der Zeichnung auch eine Art digitaler Notation, die aus Einsen/Strichen (dem Faden) und Nullen (den Löchern) besteht. Dabei speichert das Zeichenpapier-Blatt als Lochkarte die Informationen.








Abb- 1-6 Arbeiten aus der Serie "Tomboy", 1995-2003 | Abb. 7 "G 3, 1991" | Abb. 8 "FNC, 1991"
Haben Kunstschaffende deiner Meinung nach eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft? Inwieweit darf oder muss Kunst politisch sein?
Ich bin der Meinung, dass es keinen Bereich in unserem Leben gibt, der nicht in irgendeiner Weise als politisch verstanden und empfunden werden kann. Deshalb ist auch Kunst nicht außerhalb von Gesellschaft. Kunst findet innerhalb der politischen Strukturen statt, von denen es auch mit abhängt, was in welcher Weise sichtbar wird und damit einen Unterschied macht, und was nicht. Es gibt großartige Beispiele für Kunstwerke, die gesellschaftspolitisch relevante Themen verhandeln und dabei zugleich sowohl diskursiv als auch berührend sind. Dass allerdings Kunst irgendeinen unmittelbaren Einfluss auf das politische Geschehen haben könnte, das würde ich eher anzweifeln und ihr auch nicht per se aufbürden wollen.
Mit deinen Arbeiten bedienst du nicht den klassischen Kunstmarkt. Hat er deine künstlerische Laufbahn dennoch beeinflusst?
Der Kunstmarkt, in all seinen unterschiedlichen Facetten, ist ein wichtiger Teil der Kunstwelt, der Diskurse und des Kunstgeschehens. Viele Künstlerinnen und Künstler sind heute mit flüchtigen, medialen wie installativen Arbeiten sowohl auf Messen als auch in großen Ausstellungshäusern präsent. Und so hat natürlich auch der Kunstmarkt meine Produktion immer beeinflusst, denn Verkäufe konnten die nächsten Projekte mitfinanzieren.
Du spielst seit über 40 Jahren in der Band F.S.K. und bist auch als Solo-Musikerin tätig. Welche Rolle spielt die Musik in deinem Leben und Werk?
Da ich erst Musik, dann Kunst studiert habe, spielt Musik immer schon eine zentrale Rolle für mich. Die Band F.S.K. haben wir 1980 an der Münchner Kunstakademie gegründet. Sie ist aus dem Underground-Magazin Mode & Verzweiflung hervorgegangen, und die Band ist bis heute aktiv. 2023 haben wir unser 17. Album Topsy Turvy herausgebracht. Mit der Entscheidung, bestimmte ästhetische Äußerungen mit Musik zusammen in einer Band zu formulieren, waren wir damals nicht allein. Viele Kunststudierende in Düsseldorf, Hamburg oder Berlin haben Anfang der 80er Jahre Musikgruppen gegründet. Auch bei F.S.K. suchen wir in der Vergangenheit immer schon die Zukunft, indem wir musikalisches Material von High bis Low aufgreifen oder zitieren und daraus etwas Neues entwickeln. Abweichungen und Zufälle markieren dabei die Unterschiede zu einer authentischen Reproduktion. (>> zur Diskographie von F.S.K.)
Meine Kunstprojekte sind meist medienübergreifend angelegt, d.h. es entstehen große Konvolute von Arbeiten, die Zeichnungen, Fotos, Videos, Texte, Objekte und eben auch Musiken beinhalten können. Musikalisch beeinflusst bin ich vor allem von elektronischen Clubmusiken der letzten zwanzig Jahre, bis hin zu Neuer Musik.
Ein Soundtrack im Ausstellungsraum macht etwas mit dem Raum und den Besucher*innen: Die Flüchtigkeit von Klängen definiert einen Raum in der Zeit und lädt uns zum Verweilen ein. Die Klänge umfließen unseren Körper, während wir uns im Raum visuell verorten. Musik gibt den Zeichnungen außerdem einen zusätzlichen immateriellen Hallraum, denn Musik erzählt ja auch, nur anders. Viele der Musikstücke, die ich für meine Kunstprojekte produziert habe, funktionieren ebenso als autonome Musikstücke ohne den installativen Kontext. Diese Musiken habe ich meistens auf Schallplatten und CDs außerhalb des Kunstbetriebs veröffentlicht, also nicht als sogenannte „Künstlerschallplatten“. Mir war wichtig, dass diese Musiken nicht nur in Kunstinstitutionen zu erwerben sind, sondern dass ich sie immer auch einem anderen Publikum aus dem Elektronik- oder Popumfeld zugänglich machen wollte. So hat beispielsweise mancher Musiktrack meiner Projekte, als Produkt, das sich jede/r leisten kann, eine größere internationale Wahrnehmung gefunden als das entsprechende Ausstellungsprojekt, das ja an bestimmte Kunstorte und deren Publikum gebunden ist.

Die Mitglieder der Band F.S.K. mit Antony Shake Shakir aus Detroit, Foto: Jenz Schwarz
Du hast lange als Professorin für zeitbezogene Medien an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg unterrichtet. Welche Erkenntnisse und Ratschläge wolltest du deinen Studierenden mit auf den Weg geben?
Die Kunsthochschule oder Kunstakademie ist für mich ein Möglichkeitsraum, in dem die Studierenden sich selbst ausprobieren können und ihnen dafür so viel Zeit und Unterstützung gegeben wird, wie sie brauchen. Es ist ein unglaubliches Privileg, dass während des Kunststudiums über mehrere Jahre hinweg verhandelt und präzisiert werden kann, worum es künstlerisch, konzeptuell und ästhetisch geht. Es geht aber nicht nur darum, die Studienzeit möglichst kreativ und experimentell zu nutzen, sondern auch darum, herauszufinden, wie jede/r leben will. Wenn sich also die Studierenden nach diesem jahrelangen Auseinandersetzungsprozess für die Kunst als Berufsfeld entscheidet, dann ist das in meinen Augen mit ziemlicher Sicherheit die richtige Entscheidung.
Dieses Berufsfeld ist ja groß, es gibt viele Sparten, in denen man sich nach einem Kunststudium mit dem erworbenen Wissen verwirklichen kann. Denn natürlich müssen wir den Studierenden auch vermitteln, dass es die verschiedensten Möglichkeiten gibt, als Künstler*innen tätig zu sein. Die Frage stellt sich doch zunehmend, welche Rolle künstlerische Produktion in der Gesellschaft spielen sollte und was sich verändern müsste an einem Kunstsystem, das ein paar wenige sehr reich macht und fast alle anderen nicht ernähren kann.
Also gilt es, die Studierenden zu empowern, in Hinblick auf ein Leben, das sie leben wollen. Es gibt ja keine Autobahn von A nach B, der man nur folgen muss, um Künstler*in zu werden. Die Umwege zählen, und es gibt immer jede Menge Optionen.
Was sind deine Pläne für das neue Jahr?
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